Sprachbildung braucht Bewegung
| März 2018Sprachbildung braucht Bewegung
Kinder erschließen sich ihre Umwelt über ihren Körper, ihre Sinne. Indem sie vom ersten Tag ihres Lebens an selber tätig werden, gewinnen sie Erfahrungen, die ihnen ein zunehmendes Wissen über sich selbst, ihre Mitmenschen und die dinglich-räumliche Umwelt ermöglichen. Auch der Spracherwerb ist ein Lernprozess, der durch die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit seiner materialen und sozialen Umwelt geprägt ist.
Kindliche Entwicklung ist als Einheit von Wahrnehmen, Handeln, Fühlen und Denken zu verstehen. Sie ist geprägt durch die Merkmale der Selbsttätigkeit und Eigenaktivität, die sich sowohl in der Bewegungsentwicklung des Kindes als auch in seiner Sprachentwicklung äußern. Der aktive Gebrauch der Sprache – im Dialog mit Erwachsenen und auch mit anderen Kindern – ist entscheidend für den Erwerb sprachlicher Kompetenzen.
Wie Bewegungshandeln zum Ausgangspunkt für sprachliche Prozesse wird, soll im folgenden Abschnitt aufgezeigt werden.
Expressive und instrumentelle Funktion von Bewegung und Sprache
Die ursprüngliche Funktion der Sprache ist die der Mitteilung und Verständigung.
Durch Sprache und Sprechen stellt das Kind Beziehungen zu anderen, zu Erwachsenen und Kindern her. Es kann Wünsche und Bedürfnisse äußern, kann sich mitteilen und Dinge erfragen. Lange bevor das Kind die verbale Sprache nutzt, teilt es sich bereits mit Gesten, Mimik, Gebärden – über seinen Körper mit. Bereits Säuglinge nehmen über Gestik und Mimik Kontakt mit der Umwelt auf, sie drücken durch Bewegungen Wohlbefinden aus, indem sie mit Armen und Beinen strampeln, oder signalisieren Abwehr, indem sie sich körperlich von einem Interaktionspartner abwenden.
Sprache beinhaltet also unterschiedliche Mittel der Kommunikation, die Gestik und Mimik, Laute und Gebärden, die Körperhaltung und -bewegung. Das Kind hat viele Möglichkeiten sich auszudrücken, auch nonverbale Kommunikationsformen sind wichtige Mittel, anderen Botschaften zu senden.
Mit zunehmendem Alter übernimmt die verbale Sprache die Form der Mitteilung und des Austauschs, wobei jedoch auch im Erwachsenenalter die anderen Kommunikationsebenen noch bestehen bleiben.
Sprache wird vom Kind jedoch auch verwendet, um eine Absicht zu realisieren, es will „mit Worten Dinge geschehen machen“ (Bruner 2008, 8). Zuvor lässt es jedoch über seinen Körper Dinge geschehen: Der Ball, der mit einem Fußtritt in Bewegung versetzt wird, vermittelt ihm das Gefühl von Selbstwirksamkeit, es sieht sich selbst als Urheber einer Wirkung.
Die zunehmende Beherrschung des Körpers und der Sprache eröffnen ihm den Weg in die Selbstständigkeit.
Bewegungshandeln als Ausgang für sprachliche Prozesse
Sprache baut auf dem Handeln auf: Zuerst kommt das körperlich-sinnliche Erkunden einer Sache, dann erst erfolgt die sprachliche Begleitung. Das Kind spielt z. B. mit dem Ball, lässt ihn auf den Boden prellen. „Ball springt“ sagt es, aber nicht bevor, sondern nachdem es sich mit ihm beschäftigt hat. Im Tun, im handelnden Umgang mit Gegenständen und Objekten entdeckt es die Sprache als nützliches Medium, als Werkzeug des Handelns. Erst im Laufe der Zeit werden Handlungen verinnerlicht, das Kind kann die Handlung reflektieren. Sprache ermöglicht dann eine gedankliche Vorwegnahme („ich will Ball spielen“) oder rückblickende Reflexion des Tuns („ich habe das Tor getroffen“) und damit eine Distanz zur aktuellen Situation.
Das Kind gewinnt, bevor es sich sprachlich mitteilen kann, bereits ein Wissen über die Beschaffenheit von Gegenständen oder die Funktion von Objekten. Dass ein Ball rund ist, auf dem Boden rollt oder hochspringt, wenn man ihn fallen lässt, dieses Wissen hat es aufgrund seiner Erfahrungen durch Wahrnehmung und Bewegung, in denen sich die Zusammenhänge erschließen. So werden durch das Handeln gewonnene Erfahrungen in Verbindung mit der Sprache zu Begriffen. Diese Begriffe ermöglichen dem Kind die innere Abbildung der Welt (Zimmer 2014). Zeitliche Begriffe wie „langsam“ und „schnell“, räumliche Begriffe wie „hoch“ und „tief“ erfährt das Kind z. B. in Bewegungshandlungen, die es in Raum und Zeit variiert. So erweitert es seinen Wortschatz und erwirbt die Voraussetzung für das Verständnis sprachlicher Klassifizierungen.
Eingebunden in sinnvolle, bedeutungsvolle Handlungssituationen, in denen verbale und nichtverbale Handlungsteile ineinandergreifen, lernt das Kind, sich seines Körpers und der Sprache als Werkzeug zu bemächtigen.
Der Spracherwerb ist eng mit der kognitiven Entwicklung verbunden. Sprache ermöglicht Denken, unabhängig von der konkreten Handlung. Sie ermöglicht die Vorstellung, abstrakte geistige Operationen, die losgelöst von der realen Tätigkeit sind. Allerdings geht der Spracherwerb vom praktischen Handeln, von der körperlichen Tätigkeit aus. Man kann sogar sagen, dass Sprache zuerst ein körperlich-motorischer Vorgang ist. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich mit Möglichkeiten der Unterstützung des Spracherwerbs bei Kindern befasst.
Bewegungshandeln ist gleichzeitig auch Sprachhandeln
Bewegungsaktivitäten regen zu explorativen Handlungen an, ermutigen das Kind, sich sprachlich zu äußern, einzugreifen. Es lernt mit den Dingen, aber auch mit den Worten zu handeln.
Bewegung wird vom Kind nicht nur aus Lust an der Tätigkeit betrieben, sondern ist in der Regel auch von seinem Erkenntnisinteresse gesteuert. Bewegungshandlungen werden daher geplant, gesteuert, sie sind mit Strategien der Problemlösung verbunden: Führt der eingeschlagene Weg zum Ziel? Welche alternativen Möglichkeiten stehen zur Verfügung? Was ist die Ursache für eine Wirkung, für einen sichtbaren, spürbaren Effekt? Bewegungsaktivitäten sind explorative Handlungen, bei denen das Kind sich ein Bild von der Beschaffenheit und Gesetzmäßigkeit der Dinge macht und seine Annahmen im eigenen Tun überprüft. Beim Suchen nach Lösungsmöglichkeiten kann es die eigenen Handlungen variieren und dabei die Bewegung als Mittel zum Zweck einsetzen.
Die Pädagogin kann die Bewegungsaktivitäten des Kindes sprachlich begleiten, dadurch wird die Aufmerksamkeit des Kindes noch intensiver auf die Sache gerichtet. Sprache dient der Vergewisserung und der Bewusstmachung des erlebten Effektes. Verursacher eines Handlungseffektes zu sein heißt auch, sich der Regelhaftigkeit des Vorgangs bewusst zu sein. Handlungen können so durch die sprachliche Bewusstmachung zu Erkenntnissen führen („Du hast mit dem Ball genau in den Reifen getroffen …“).
Diese Beispiele stellen keine zielgerichtete Förderung einzelner sprachlicher Kompetenzen dar, die situativen, aber auch die bewusst inszenierten Bewegungsangebote können für die Kinder jedoch Anlässe zum Sprechen, zum Erweitern und Differenzieren ihres Sprachvermögens sein. Über Bewegungsspiele können sprachliche Bildungsprozesse provoziert werden. Eine Spielidee liefert den Anlass für Bewegungshandlungen wie auch für Sprachhandlungen. Situationen werden „versprachlicht“. Damit sind Spielhandlungen zugleich komplexe Spracherwerbssituationen. Ebenso können umgekehrt Sprachhandlungen zu Bewegungsanlässen werden: Die Beschreibung einer Situation wird durch Gestik begleitet; ein Rollenspiel lebt zwar durch die sprachliche Kommunikation der am Spiel Beteiligten, es wird gleichzeitig aber auch körperlich inszeniert.
Bewegungsanlässe sind auch Sprachanlässe
Sprache und Bewegung – beides sind bei Kindern wesentliche Mittel der Erkenntnisgewinnung, des Ausdrucks und der Mitteilung. Das Grundanliegen einer bewegungsorientierten Sprachbildung und Sprachförderung von Kindern sollte darin bestehen, eine anregungsreiche, zur Aktivität und zum Handeln auffordernde Umwelt zu schaffen, in der das Kind seinen Körper, Bewegung, Sprache und Stimme gleichermaßen einsetzen darf, um sich mit sich selbst und anderen auseinanderzusetzen. Bevorzugtes Mittel ist dabei das Spiel. Es schafft Bewegungs- und Sprechanlässe, die dazu beitragen, das sprachliche und körpersprachliche Handlungsrepertoire ebenso zu erweitern wie das Bewegungsrepertoire.
Bewegung besitzt also ein entwicklungsförderndes Potenzial, das sich insbesondere in den ersten Lebensjahren positiv auf die Sprachentwicklung auswirken kann. Die sprachfördernde Wirkung entfaltet sich dabei z.T. eher indirekt und beruht insbesondere auf den vielfältigen Sprechanlässen, die sich beim gemeinsamen Spiel ergeben, beim Bauen und Konstruieren, beim Aushandeln von Rollen und Regeln, im spontanen, spielerischen Umgang mit der eigenen Stimme bei Rollen- und Symbolspielen. Sie entfaltet sich insbesondere in dem motivierenden, lustbetonten Kontext, in dem Bewegungshandeln sich zwanglos mit sprachlichem Handeln verbinden lässt.
Sprach- und Bewegungsbildung – Querschnittaufgabe der pädagogischen Förderung in Kindergarten und Schule
Sprache ist ebenso wie Bewegung nicht an einen Ort, an eine Zeit zu binden, über beides – Sprache und Bewegung – entdecken Kinder die Welt. Sie setzen sich mit ihren sozialen und dinglichen Gegebenheiten auseinander, eignen sie sich an und wirken auf sie ein. Da liegt es nahe, beide Bildungsbereiche in ihrer wechselseitigen Beeinflussung zu betrachten. Aufgrund ihrer Bedeutung für die kindliche Entwicklung müssen Sprachbildung und -förderung ebenso wie Bewegungserziehung eine Querschnittaufgabe der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen sein.
Durch die bewusste Inszenierung von bewegungsorientierten Sprachbildungsprozessen eröffnet sich die Möglichkeit, zwar ohne zeitlich fixierte Förderstunden, aber doch durch didaktisch reflektierte Anregungen die Kinder in ihren sprachlichen Kompetenzen zu unterstützen. Damit werden alle Kinder erreicht, besonders wichtig ist dies für die Kinder, die aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Herkunft und ihrer individuellen Voraussetzungen einer besonderen Unterstützung bedürfen.
Der spielerische Umgang mit der Sprache, die Lust am Nachahmen, das unbefangene Ausprobieren von Lauten, dies sind gute Voraussetzungen, die Sprache zu erwerben. Bewegung unterstützt diesen Prozess – Sprache wird so am eigenen Leib erfahren.
Fazit
Bewegungsorientierte Sprachbildung und -förderung beinhalten die Chance, an den Kompetenzen der Kinder anzusetzen – und nicht an ihren Schwächen.
Je jünger Kinder sind, umso mehr brauchen sie Aktivitäten und Dialoge, in denen die gesprochene Sprache mit weniger rationalen Ausdrucksmitteln und mit Sinneswahrnehmungen, mit Bewegungs- und Handlungserfahrungen verknüpft wird (Sander & Spanier 2008). Eine bewegungsorientierte Sprachbildung sollte eine anregungsreiche, zur Aktivität und zum Handeln auffordernde Umgebung schaffen, in der das Kind Körper und Bewegung, Sprache und Stimme gleichermaßen lustvoll einsetzen kann.
Sprachbildung braucht Bewegung – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
Der Artikeltext ist aus dem Buch von Renate Zimmer Handbuch Sprache und Bewegung. Alltagsintegrierte Sprachbildung in der Kita. Freiburg: Herder 2016, S.13–18 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages)