Loose Parts – kleine Dinge, große Schätze
Ideen für das Spielen und Lernen mit Alltags- und Naturmaterialien
| Juli 2024Wir haben schon oft darüber gestaunt, wie intensiv sich Kinder mit einfachen Alltags- und Naturmaterialien wie Kisten, Steinen, Muscheln, Sand oder Wasser beschäftigen können. Diese Beobachtungen haben uns dazu veranlasst, die weitverbreitete Annahme, Kinder bräuchten möglichst ausgereiftes Spielzeug, infrage zu stellen. Wie Sie vermutlich selbst schon einmal festgestellt haben, sind Kinder oft mehr an der Verpackung interessiert als am Spielzeug selbst.
Denn Kinder bevorzugen in der Regel Spiele, die ihre Neugier wecken und ihrer Fantasie sowie Kreativität genügend Raum geben. Wir sehen in der Einbeziehung von so genannten Loose Parts (aus dem Englischen: „loose“ für beweglich, lose, frei; „part“ für Teil, Einzelteil) in die Spielumgebung eine der besten Möglichkeiten, den angeborenen Wissensdurst von Kindern zu befriedigen.
Was sind Loose Parts?
In der frühkindlichen Bildung werden unter Loose Parts ansprechende, schöne Objekte verstanden, die Kinder im Spiel bewegen, manipulieren, steuern und verändern können (vgl. Oxfordshire Play Association, Zugriff 2014).
Kinder können diese Dinge tragen, kombinieren, umgestalten, aufreihen, auseinandernehmen und auf unendlich viele Weisen wieder zusammensetzen. Den Materialien liegen dabei keine Handlungsanweisungen zugrunde und sie können einzeln oder in Kombination mit anderen Gegenständen verwendet werden (vgl. Hewes 2006). Kinder können das Material in alles Mögliche verwandeln: Ein Stein kann die Hauptfigur einer Geschichte darstellen und eine Eichel kann die Geheimzutat einer fiktiven Suppe sein. Loose Parts laden zu Gesprächen und Interaktionen ein, was wiederum kooperatives Verhalten fördert. Oder anders ausgedrückt: Sie stärken die soziale Kompetenz, weil Kreativität und Erfindergeist angesprochen werden. All diese Fähigkeiten sind in der heutigen Welt der Erwachsenen hoch gefragt.
Mit Materialien aus Alltag und Natur ergeben sich unbegrenzte Spielmöglichkeiten. Sie haben mehr als nur eine Funktion, denn es gibt weder Vorgaben noch festgelegte Ziele. Im Gegensatz zu einem Puzzle, dessen Teile dazu bestimmt sind, zu einem einzigen Bild zusammengefügt zu werden, kann unterschiedliches Alltagsmaterial auf beliebige Weise miteinander kombiniert werden. Ein Schal kann etwa zu einer Babydecke, einer Picknickdecke, einem Fischteich, einem Dach oder einem Brautschleier umfunktioniert werden.
Der Ursprung unseres Ansatzes
Seit Generationen spielen Kinder mit den unterschiedlichsten Funden – von Steinen und Stöcken über Blechdosen bis hin zu Draht. In seinem 1971 erschienenen Artikel „How NOT to Cheat Children: The Theory of Loose Parts", prägte der britische Architekt Simon Nicholson für diese Fülle an Alltags- und Naturmaterialien den – vor allem im englischen Sprachraum – verwendeten Begriff der „Loose Parts“, um leicht verfügbare Materialien zu beschreiben, die auf vielfältige Weise verwendet und verändert werden können. Nicholson sah in Menschen aller Altersklassen kreatives Potenzial.- Die Umgebung, so glaubte er, biete Kindern genügend Möglichkeiten, die unterschiedlichsten Phänomene wie Schwerkraft, Geräusche, chemische Reaktionen, Konzepte, Wörter und Menschen zu erkunden. Für Nicholson hing der Wert einer Umgebung von den Möglichkeiten ab, die sie bot, um Verbindungen herzustellen: „In jeder Umgebung", so schrieb er, ,,stehen der Grad der Erfindungskraft und Kreativität sowie die Möglichkeiten der Entdeckung in einem direkten Verhältnis zur Anzahl und Art der in ihr enthaltenen Variablen" (30).
Nehmen wir zum Beispiel einen Strand: Er strotzt nur so vor schönen Dingen – Felsen, Muscheln, Meerglas, Pflanzen und Federn. Wenn Kinder in einer solchen Umgebung spielen, können sie sich frei bewegen und selbst entdeckte Funde dazu nutzen, um neue Geschichten und Dinge zu entwerfen und sich stundenlang zu beschäftigen. Dies macht nicht nur Spaß, sondern trägt auch wesentlich dazu bei, ein höheres Maß an kritischen Denkansätzen und Kreativität auszubilden.
Wenn eine Umgebung reich an solchen Materialien ist, entdecken Kinder unbegrenzte Möglichkeiten, mit diesen zu spielen. Sie entwickeln neue Denkweisen und verarbeiten das durch das Spiel erworbene Wissen. Baumscheiben können etwa als stabiles Fundament für einen höheren Turm dienen oder aber als Trittsteine, die einen sicheren Weg über den imaginären Fluss mit hungrigen Alligatoren bieten; als Lenkrad eines Rennwagens oder als Seerosenblatt zur Rettung von Fröschen. Dies befähigt Kinder zu kreativen und flexiblen Denkansätzen und befriedigt gleichzeitig ihre ständig wachsende Neugier und Lust am Lernen.
Vorteile von Loose Parts
Jeder, der schon einmal Kinder beim Spielen mit Spielzeug oder Spielgeräten beobachtet hat, weiß, dass sie von Dingen, die nur für einen Zweck verwendet werden, schnell gelangweilt sind. Ist die wesentliche Funktion eines Objekts einmal erlernt – z.B. das Bewegen einer Figur durch Drücken einer Taste oder das Besteigen einer Leiter – sind Kinder bereit, sich neuen Dingen zuzuwenden, denn Faszination und Herausforderung sind dahin. Mit anderen Worten: Kinder wählen ihr Spielzeug nach der gebotenen Wandelbarkeit. Ein Stock ist demnach eine bessere Wahl als eine Rutsche, denn der Stock kann als Angel, als Löffel zum Rühren eines Gebräus, als Zauberstab oder als Schwebebalken für Schnecken dienen. Loose Parts bieten fast unzählige Verwendungsmöglichkeiten, die Kinder dazu inspirieren, ihre eigenen Geschichten zu schreiben.
Kinderbetreuungseinrichtungen können heute aus einer Vielzahl an Spielmaterialien wählen. Dabei sollten Erzieher zu solchen Teilen greifen, die für die Entwicklung der Kinder förderlich und zugleich kostengünstig sind, denn von Erziehern wird heute oft erwartet, dass Lernmaterial aus eigener Tasche bezahlt wird. Loose Parts kommen hier wie gerufen. Sie kosten oft nichts und bieten einen entscheidenden Vorteil: Sie bewegen Erzieher und Eltern dazu, Dinge auf sinnvolle und vielfältige Art und Weise wiederzuverwenden oder anderweitig einzusetzen. Auch die Eltern der Kinder können eingebunden und in einem Flugblatt darum gebeten werden, geeignete Materialien rund um ihr Zuhause zu sammeln und mitzubringen. Als Anregung kann eine Liste beigefügt werden (kleine Kartons, Schraubdeckel, Knöpfe, Stoff etc.). Auch durch den Aushang am schwarzen Brett oder das Verteilen auf Veranstaltungen kann dieser Aufruf leicht zu neuem Spielmaterial verhelfen.
Loose Parts unterstützen den schulischen Werdegang
Loose Parts bieten zahlreiche Möglichkeiten für freies Lernen. Vor allem in Programmen der frühkindlichen Bildung, in der Normen und Aufgabenblätter überhandzunehmen drohen, gewinnt der Einsatz von alltäglichen Objekten an Bedeutung, da sie einen wichtigen Beitrag zum Erwerb solcher Fähigkeiten leisten, die Kinder für den Eintritt in die Schule benötigen.
Mathematik
Kinder erwerben erste mathematische Fähigkeiten und ein Verständnis für numerische Konzepte durch das Sortieren, Klassifizieren, Kombinieren und Trennen von Objekten, wie etwa Klötzen und Flaschendeckeln. Durch die Herstellung von Beziehungen zwischen Dingen erlernen sie außerdem die Eins-zu-Eins-Korrespondenz. Sobald Kinder damit beginnen, Alltags- und Naturmaterialien in ihre Spiele einzubinden, sieht und hört man häufig, wie sie Objekte zählen, in speziellen Mustern anordnen und in Kategorien nach Farbe, Typ und Anzahl sortieren – denn sie sind wie gemacht für Kategorisierungen. Wenn Kinder mit Dingen wie Bechern, Stöcken, Trichtern und Sieben spielen, wird zudem das Konzept des Messens für sie greifbarer. Mengen und Maße, Gleichwertigkeit, Symmetrie, Raum-/Lagebeziehungen, Invarianz und logische Klassifizierung sind Vorläufer höherer mathematischer Fähigkeiten, die durch den Einsatz einfacher Loose Parts gefördert werden.
Naturwissenschaften
Alltags- und Naturmaterialien helfen Kindern, Annahmen und Erklärungen über physikalische Merkmale der unbelebten Welt zu erforschen und aktiv herzuleiten. Durch das Experimentieren mit Stapelboxen, Rohren und Flaschen lernen sie, wie die Dinge funktionieren. Kinder können außerdem viele Hypothesen in Bezug auf Schwerkraft, Kraft, Gewicht, Distanz und Höhe praktisch austesten. So lernen sie etwa, dass sich die Dinge auf unterschiedliche Art und Weise bewegen, indem sie Objekte ziehen und schieben, um sie in Gang zu setzen, zu stoppen oder ihre Richtung zu ändern. Holzbretter, Dachrinnen und Bälle helfen ihnen, Steigungen, Gefälle und das Gesetz der Schwerkraft zu erforschen. Prismen sowie transparente, halbtransparente oder undurchsichtige Materialien auf einem Leuchttisch oder Overheadprojektor versetzen Kinder in die Lage, mit Farben, Schatten, Reflexionen und gebrochenem Licht zu experimentieren.
Sprach- und Lesekompetenz
Der Einsatz von Loose Parts fördert die Sprachentwicklung, da sie Gesprächsanlässe unter Freunden und mit Erwachsenen liefern und als Quelle für reich ausgeschmückte Geschichten dienen. Indem Kinder die verwendeten Dinge beschreiben, können sie neue, komplexe Wörter üben und sich an Diskussionen beteiligen, die wiederum ihr kritisches Denkvermögen stärken. Kinder stellen Verbindungen her zwischen Objekten, den Büchern, die sie gelesen haben, und den Geschichten, die sie gehört haben. Eine Auswahl an unterschiedlichen Materialien gibt ihnen die Möglichkeit, Ideen zu versprachlichen, ihr Zusammenspiel zu planen und es zu skizzieren (vgl. Bohling, Saarela und Miller 2010). Der umfangreiche, kontinuierliche Einsatz von Alltags- und Naturmaterialien hilft Kindern, ihre Erinnerungsfähigkeit zu schulen, ihren Wortschatz zu erweitern und die Alphabetisierung zu fördern.
Kunst
Kinder bringen ihre Ideen und Gefühle häufig durch Kunst zum Ausdruck. Ein Atelier bietet ihnen die nötigen Werkzeuge und Materialien, mit denen sie diese verbildlichen können. Die Einbeziehung von verschiedenen Objekten und Dingen in das künstlerische Schaffen kann ihre Kreativität fördern und ihnen dabei helfen, Ideen und Fragen weiterzuentwickeln. Dabei sollte man sich jedoch nicht auf das Atelier beschränken. Bereichern Sie Ihre Innen- und Außenbereiche mit Materialien, um das volle Potenzial kreativer Ausdrucksmöglichkeiten auszuschöpfen. Das ästhetische Empfinden der Kinder zeigt sich nämlich auch darin, wie sie Stöcke aufreihen, Holzbretter an einer Hütte abstützen, Steinmosaike in den Sand legen und Tannenzapfen spiralförmig anordnen.
Musik und Bewegung
Musik und Bewegung erobern die Aufmerksamkeit und das Herz eines jeden Kindes. Kinder bewegen sich vor allem frei durch selbst initiiertes und selbstgesteuertes Spiel (vgl. Edwards, Bayless und Ramsey 2009). Materialien wie z.B. Schals, Reifen und Bänder eröffnen unbegrenzte Bewegungsmöglichkeiten und bieten Kindern Raum zur Improvisation. Musikalisches Spiel äußert sich oft, indem Gegenstände mit größtmöglicher Kraft geschlagen werden, um sie erklingen zu lassen. Auch hier bieten Loose Parts zahllose Gelegenheiten, Klänge zu erforschen, die überschwänglich, willkürlich, laut und chaotisch oder leise, sanft und konzentriert sein können. Nahezu jedem Kind ist die Fähigkeit angeboren, mit Musik zu interagieren (vgl. Miché 2002). Die Rolle des Erziehers besteht also darin, eine Umgebung zu schaffen, die die musikalische Entwicklung unterstützt.
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Wir möchten Sie mit diesem Buch dazu inspirieren, das Potenzial von vielfältigen Alltags- und Naturmaterialien – den Loose Parts – voll auszuschöpfen und neue Spielanreize zu schaffen. Was Sie dafür tun müssen? Platzieren Sie einfach beliebige Objekte in der Umgebung der Kinder und überlassen Sie ihnen den Rest. Sie werden überrascht sein, wie viel Neues die Kleinen mit den Objekten erschaffen und lernen werden.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus Kapitel 1: Daly, Lisa, and Miriam Beloglovsky. 2020. Loose Parts: Kleine Dinge, Große Schätze. Ideen für das Spielen und Lernen mit Alltags- und Naturmaterialien. Berlin: Bananenblau – Der Praxisverlag für Pädagogen.
© 2020 Bananenblau – Der Praxisverlag für Pädagogen
Nachdruck mit Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.
Originalausgabe Loose Parts: Inspiring Play in Young Children
© 2015 Redleaf Press/USA