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Kinder brauchen Aufmerksamkeit

Tamar Jacobson | August 2024

So ziemlich jeder, der mit Kindergruppen gearbeitet hat, hat schon einmal die Frage gehört: „Was mache ich bloß mit meinem Kind? Es scheint so viel Aufmerksamkeit zu brauchen.“ Allzu oft ist die Antwort: „Es will nur deine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Am besten einfach ignorieren.“ Als ehemalige Professorin, Erzieherin und jetzt Beraterin für Eltern und frühkindliche Förderprogramme habe ich solche Gespräche immer wieder gehört. Sollten wir unsere Annahmen über den ständigen Wunsch der Kinder nach Aufmerksamkeit nicht nochmal überdenken? Was wäre, wenn wir über den Schrei nach Aufmerksamkeit hinaus blicken und sehen würden, dass dieses Kind eine Beziehung sucht?

Kind und Erzieherin

Was Kinder brauchen

Aus meinen entwicklungspsychologischen Studien weiß ich, dass kleine Kinder unsere Aufmerksamkeit brauchen. Studien zur Entwicklung des Gehirns zeigen uns, dass Kinder Liebe, Körperkontakt und volle Aufmerksamkeit von uns brauchen, um zu überleben und sich gesund zu entwickeln, um sich zugehörig und wertvoll zu fühlen. Wir wissen auch, dass kleine Kinder, die Aufmerksamkeit brauchen, sich nicht unbedingt so verhalten, wie Erwachsene es von älteren Kindern und anderen Erwachsenen erwarten. Wenn Kinder unsere Aufmerksamkeit nicht bekommen, kompensieren sie das auf unterschiedliche Weisen: indem sie ihre Wünsche unterdrücken, laut werden und aggressiv oder gewalttätig reagieren, Groll entwickeln oder Aufmerksamkeit von irgendjemandem suchen, der sie ihnen gibt.

Wie sollte ein kleines Kind seine Angst vor Verlassenwerden oder sein Bedürfnis nach Kontakt zu Erwachsenen äußern, wenn nicht dadurch, dass es unsere Aufmerksamkeit sucht? Wenn ein Kind nicht in der Lage ist, sich an die Verhaltensregeln im Gruppenraum zu halten oder ständig unsere Aufmerksamkeit fordert, ist es wichtig, den Grund dafür herauszufinden.

Ich kannte einmal einen Fünfjährigen, der sein Leben in Heimen und Pflegefamilien verbrachte und keine stabile Beziehung zu Erwachsenen aufbauen konnte. Sein tiefes Verlangen nach Stabilität und Beziehung trug zu schwierigem Verhalten im Gruppenraum bei und war für die Erziehungskräfte sehr frustrierend. Mein Kontakt mit ihm endete, als er schließlich aus der Bildungseinrichtung ausgeschlossen wurde und in ein anderes Heim kam – eine weitere Runde im traurigen Kreislauf von Verlassen-Werden und Schuldgefühlen. Ich hoffe, dass eines Tages ein mitfühlender Erwachsener in sein Leben treten wird, der ihm die Aufmerksamkeit schenkt, nach der er sich sehnt, und diesen endlosen Kreislauf von Ablehnung und Missverständnissen durchbricht.

Erzieherin umarmt Kind 

Suchen sie nur Aufmerksamkeit?

Einmal, als ich auf einer Konferenz über Disziplin einen Vortrag hielt, erzählten die Leute im Raum Geschichten über die negativen Verhaltensweisen von Kindern, die sie als „Aufmerksamkeitssüchtig“ bezeichneten. Ich fragte mich, warum die Vorstellung, dass Kinder Aufmerksamkeit wollen, so negativ besetzt ist – haben wir als Kinder gelernt, dass es schlecht oder sogar beschämend ist, überhaupt Aufmerksamkeit zu wollen? Während der Diskussion in meinem Workshop habe ich diesen Gedanken geäußert: „Was wäre, wenn wir statt zu denken, dass ein Kind etwas nur macht, um Aufmerksamkeit zu bekommen, denken würden: ‚Es macht das nur, um in Beziehung zu treten?‘“ Wenn wir die Vorstellung, dass Kinder Aufmerksamkeit wollen, durch die Vorstellung ersetzen, dass Kinder eine Beziehung wollen, fangen wir an, anders darüber zu sprechen, wie wir als Fachkräfte reagieren könnten. Wenn zum Beispiel ein anderer Erwachsener um Hilfe bittet, ignorieren wir ihn nicht, sondern wir werden präsenter und hören oder schauen ihn geduldig an. So verändert sich das ganze Gespräch.

Ich denke, dass die derzeitige Diskussion über das Konzept der Selbstregulierung einer der Gründe für unsere Abneigung gegen Kinder ist, die unsere Aufmerksamkeit brauchen. Wir wissen, dass kleine Kinder lernen müssen, sich an gesellschaftliche Normen anzupassen, um schulisch und emotional ihr Leben zu meistern. Es scheint jedoch, dass Erwachsene in ihrem Wunsch, die Selbstregulierung bei Kindern zu fördern, bestrafend geworden sind. Reagieren wir verärgert, wenn Kinder Aufmerksamkeit einfordern? Wenn Kinder die Fähigkeit zur Selbstregulierung erwerben, lernen sie auch, Erwachsenen zu gefallen und ihre Emotionen zu unterdrücken. Emotionen regulieren richtig zu lernen braucht Zeit. Wir könnten Kindern helfen, zu lernen, wann und wie sie ihre Gefühle ausdrücken können, und zwar durch Anleitung, Verständnis und in Beziehungen, anstatt sie mit Strafen oder Auszeit zu belegen.

Hilf ihnen, sich zu entfalten

Wir Erwachsene verhalten uns oft so, als wollten wir nicht, dass Kinder unsere Routine stören. Damit wird die Botschaft vermittelt, dass es für uns Wichtigeres gibt, worum wir uns kümmern müssen. Wir müssen Kindern vermitteln, dass wir sie als ganze Menschen sehen und nicht nur als die Summe ihres Verhaltens. Sie brauchen uns, um ihnen zuzuhören, um ihre Gefühle zu bestätigen und um sie ernst zu nehmen als das, was sie heute sind und was sie später sein werden. Kinder brauchen unsere Aufmerksamkeit – den Kontakt und die Beziehung ­– und wenn sie das einfordern, sollte es nicht negativ belegt sein. 

Junge und Erzieher im Außengelände

Am Ende meiner Vorträge lese ich oft einen Abschnitt aus dem letzten Kapitel meines Buches vor (siehe Literaturhinweis). Ich möchte es gerne hier mit Ihnen teilen:

Wenn stürmische Emotionen mich wie Fluten umtost haben, habe ich mich an Mitgefühl und Dankbarkeit geklammert wie an einen Rettungsring. Sie haben mich immer auf die andere Seite gelenkt – in die ruhigeren Gewässer der Akzeptanz und Liebe. Für uns Pädagogen sind Kinder Quelle von Arbeit, Enthusiasmus und Inspiration. Sie werden uns von ganzem Herzen lieben, wenn wir ihnen unsere Herzen öffnen und Aufmerksamkeit schenken. Wenn wir sie genau beobachten, können wir etwas über Emotionen, Spontaneität, Lebensfreude, Neugier und uns selbst lernen: Wir durchleben unsere eigene Kindheit immer wieder neu, und jedes Mal, wenn sie staunend ihre ersten Entdeckungen machen, wird etwas in uns selbst befreit.

Seid dankbar für sie.

Vergebt ihnen.

Liebt sie aus ganzem Herzen.


Literatur:

Jacobson, Tamar (2018). Everyone Needs Attention: Helping Young Children Thrive. St Paul, Minnesota, RedLeaf Press. 

Themen
Rolle der pädagogischen Fachkraft, soziale und emotionale Bildung
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Alle Altersgruppen
Verwendung
Weiterbildung