Der Zustand der frühen Kindheit
Drei Dinge, die sich geändert haben, seit ich Beraterin für Frühpädagogik geworden bin.
| September 2018Wenn ich auf Konferenzen spreche oder Schulungen gebe, bekomme ich von Fachkräften eine Menge Geschichten zu Ohren. Und da ich schon fast vierzig Jahre lang Seminare und Schulungen veranstalte, können Sie sich vorstellen, wie viele Geschichten ich schon gehört habe. In letzter Zeit allerdings höre ich dauernd und überall dieselben drei Geschichten.
Eine davon ist diese:
1. Immer mehr Kinder können die Körpermitte nicht mehr überkreuzen.
Leider ist das nicht überraschend, wenn man die Behauptung eines Kinderarztes bedenkt, dass Säuglinge pro Woche mehr als 60 Stunden ihres Wachseins in Dingen wie Autositzen, Hochstühlen und dergleichen verbringen. Eine meiner Kolleginnen nennt das „Containerkinder“. Andere nennen sie Bucket Babys. Lustige Bezeichnungen, aber die Situation ist nicht lustig.
In einem gewissen Sinn geht dieses Problem auf eine Initiative der American Academy of Pediatrics zurück, die 1994 die „Back to Sleep“ (Rückenlage zum Schlafen) Kampagne veranstaltet hatte, um die Häufigkeit von plötzlichem Kindstod zu senken. Glücklicherweise hatte die Empfehlung, Babys in Rückenlage schlafen zu legen, die gewünschte Wirkung. Bedauerlicherweise schienen Leute zu vergessen, dass der zweite Teil der Kampagne war: „Tummy to Play“ (Bauchlage zum Spielen). Dies hat zur Folge, dass weniger Babys Zeit auf ihren Bäuchen verbringen, was unter anderem bedeutet, dass sie nicht die Muskeln entwickeln, die fürs Krabbeln und Kriechen notwendig sind, kreuzweise Bewegungen, welche die Fähigkeit fördern, die Körpermitte zu überkreuzen.
Ein weiterer Faktor ist die Geschwindigkeit des täglichen Lebens in unserer Gesellschaft. Eltern sind immer in Eile, und Hersteller und Werbung haben Lösungen wie Autositze entwickelt, die aus dem Auto nach Hause getragen werden und auch drinnen verwendet werden können, während Mama und Papa zu Abend essen und sich um die vielen anderen Aufgaben kümmern, die am Ende des Tages auf sie warten. Die Zeiten von Laufställen, die manchen vielleicht wie Käfige vorkommen, aber dem Baby immerhin Bewegungsfreiheit gewähren, sind praktisch vorbei. Das Baby konnte seitlich rollen, auf dem Bauch rutschen, sich auf Händen und Knien bewegen, sich in den Stand hochziehen und wippen – ohne die Hilfe einer Babywippe oder -schaukel, die seine Bewegung einschränkt. Es konnte sogar laufen üben und sich dabei am Geländer festhalten.
Durch die heutige Angewohnheit, so viel zu sitzen, sind Kinder nicht nur nicht in der Lage, die Körpermitte zu überkreuzen, sondern sie wachsen auch ohne Vertrauen in ihre motorischen Fähigkeiten auf, und Kinder, die sich ungeschickt oder schwerfällig vorkommen, sind genau die Kinder, die dann an körperlichen Aktivitäten nicht teilnehmen wollen – erst recht nicht die empfohlenen 60 Minuten pro Tag. Das hat erhebliche Auswirkungen auf ihre körperliche und sozial-emotionale Gesundheit.
Darüber hinaus hat Dr. Marjorie Corso Untersuchungen durchgeführt, die beweisen, dass es eine Korrelation zwischen Körper-Raum Wahrnehmung und Papier-Raum Wahrnehmung gibt. Ein Beispiel dafür ist, dass Kinder, welche die Körpermitte nicht überkreuzen können, manchmal auf der Mitte der Seite entlang der Vertikalen zu lesen oder schreiben versuchten. Manchmal schrieben sie sogar bis zur Hälfte der Seite, drehten das Blatt um und schrieben dann weiter!
Nun ist die Frage natürlich: Was können wir tun?
Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Wir lassen die Kinder Kinder sein! Der Drang, sich zu bewegen, ist ihnen von Geburt an gegeben. Wenn wir ihnen Zeit, Raum und Gelegenheit zum Bewegen geben, wird die Natur ihren Lauf nehmen!
Aber wir können auch etwas zielgerichteter handeln. Wir können überkreuzende Bewegungen fördern, indem wir die Kinder dazu motivieren, sich auf dem Boden zu bewegen, sich wie Katzen, Hunde, Schlangen, Robben oder Spinnen zu bewegen. Wir können „Spiegel“-Spiele mit Bewegungen spielen, die die Körpermitte kreuzen.
Vor allem aber können wir uns weigern zu glauben, dass Körper und Geist vollkommen getrennt sind. Was die körperliche Entwicklung beeinträchtigt, beeinträchtigt auch die Entwicklung des Gehirns. Je eher wir das zur Kenntnis nehmen, desto besser wird es für unsere Kinder sein.
2. Kinder wissen nicht mehr, wie man spielt.
Als ich 1981 mein erstes Weiterbildungsseminar gab, hätte ich mir in meinen wildesten Träumen nicht vorstellen können, dass sich Fachkräfte eines Tages darüber beschweren könnten, dass Kinder nicht mehr wissen, wie man spielt. Aber heute ist es eines der drei Dinge, die ich regelmäßig von Erzieherinnen und Erziehern zu hören bekomme.
Das ist besonders erschreckend, wenn man bedenkt, dass fast alle jungen Tiere auf diesem Planeten spielen. Auf diese Weise lernen sie, wer sie sind! Kätzchen lauern einander auf, um später Mäusen und Vögeln auflauern zu können. Welpen und junge Füchse balgen sich, um „soziale Kompetenzen“ zu erwerben. Eichhörnchen, die als Jungtiere gespielt haben, haben später bessere Koordination und sind bessere Mütter. Bei vielen Tieren hat es den Anschein, dass sie einfach spielen, weil es sich gut anfühlt.
Spielen ist ein wesentlicher Teil der natürlichen Entwicklung, und wenn Kinder nicht mehr wissen, wie man spielt, dann läuft etwas sehr, sehr falsch.
Denken Sie mal an Ihre eigene Kindheit. Ich wette, dass viele Ihrer Erinnerungen von Spielsituationen handeln, und viele davon draußen. Ich erinnere mich an Rollenspiele, die mich tagelang beschäftigt hielten. Ich konnte kaum abwarten, wieder nach draußen zu dürfen, um meine Geschichte weiterzuspielen. Diese Art des Spiels hat meine Fantasie angeregt und mir auch in späteren Jahren gute Dienste geleistet.
Ich erinnere mich daran, wie ich gelernt habe, mitten auf der Straße Rad zu schlagen. Ich bin keine Turnerin geworden, aber dass ich mit viel hartem und ausdauerndem Üben diese Fähigkeit meistern konnte, hat mir damals vor Augen geführt, was mit Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen erreicht werden kann.
Und ich erinnere mich an die Freunde, mit denen ich gespielt habe. Mit ihnen zu interagieren, zu verhandeln und kreativ zu sein hat mir vermittelt, wie ich ein Teil der Gesellschaft sein kann.
Deshalb macht es mir Sorgen, wenn mir Fachkräfte berichten, dass Kinder nur noch Charaktere imitieren können, die sie auf irgendwelchen Bildschirmen gesehen haben, oder dass sie im Außengelände nur herumstehen, weil sie nicht mehr wissen, was man da sonst noch tun könnte.
Einige der Gründe für diese Fehlentwicklung sind offensichtlich. Mit Fernsehen und digitalen Geräten haben Kinder Zugang zu einer Flut von Bildern. Sie brauchen sich nichts mehr vorzustellen, weil die Werbeindustrie und Filmproduzenten schon alles fertig und bereit haben. Als Folge davon können Kinder, wenn sie aufgefordert werden, ihren Horizont zu erweitern und erfinderisch zu sein, nicht über das hinauskommen, was sie schon gesehen haben. Dementsprechend dreht sich ihr Rollenspiel um Charaktere und Szenarios, die sie schon kennen.
Dann ist da natürlich noch die Strukturiertheit ihres Lebens. Die Tage heutiger Kinder sind durchgeplant jenseits allem, was die meisten ihrer Vorgängergenerationen je erlebt haben. Früher gab es im Leben von Kindern Zeiten, in denen sie nichts zu tun hatten und Langeweile erlebten. Sie mussten lernen, wie sie das fruchtbar bewältigen konnten.
Zeiten des Nichtstuns sind heute Mangelware und Kinder mit übervollen Terminkalendern wissen einfach nicht, wie man selbst Entscheidungen trifft, weil sie daran gewöhnt sind, dass ihnen gesagt wird, was sie zu tun haben. Da ist es kein Wunder, dass sie auf einem Spielplatz nicht wissen, was sie tun sollen, wenn plötzlich weder Schule noch Sport noch Musikstunde ist. Man kann nicht einfach so umschalten und vom Befehlsempfänger zum Initiator werden.
Was sollen Kita-Fachkräfte also machen, wenn sie merken, dass „ihre“ Kinder nicht mehr wissen, wie man spielt? Dasselbe, das sie in allen anderen frühpädagogischen Situationen machen: Zum Lernen anleiten.
Zum Teil besteht dieses Anleiten darin, Kindern Raum, Zeit und Material zur Verfügung zu stellen, mit dem sie experimentieren können. Wenn die Zeit der Kinder im Gruppenraum nicht übermäßig strukturiert ist und sie eine Vielfalt an kreativ verwendbaren Materialien haben, aus der sie auswählen können, wird sich wahrscheinlich Rollen- oder Konstruktionsspiel daraus entwickeln. Wenn sie draußen Plastikreifen, einige Bälle und viele lose Teile zur Verfügung haben, entwickelt sich wahrscheinlich eine Form von Bewegungsspiel. Aber sogar dann sind sie vielleicht auf etwas Hilfestellung durch die Fachkraft angewiesen.
Wenn ein Kind in einer Charakterrolle „feststeckt“ oder bewegungslos an der Seite steht, kann die Erzieherin es zum mitspielen einladen, indem sie ihm vormacht, wie man das aktuelle Spiel weiterentwickeln könnte und indem sie Fragen stellt, die die Kinder zum Nachdenken und zu neuen Antworten herausfordern, zum Beispiel: „Was meint ihr, was sollte ich mit diesen Stöckchen machen?“ Sobald die Kinder im Spiel sind, kann die Fachkraft sich zurückziehen und damit der Gefahr vorbeugen, dass das Spiel nicht mehr von den Kindern ausgeht und dass die Kinder anfangen, sich auf die Fachkraft zu verlassen, dass diese ihr Spiel leite.
Es ist ungeheuer traurig, dass Kinder etwas so einfaches nicht mehr können – etwas, das schon aus biologischer Sicht absolut notwendig ist. Aber wenn frühpädagogische Fachkräfte die Rolle des Spiels in der Entwicklung eines Kindes verstehen (und alle, die beruflich mit Kindern zu tun haben, sollten das verstehen), können wir diesem traurigen Trend entgegenwirken.
3. Die Kinder haben kaum Feinmotorik
„Die Kinder können keinen Wachsmalstift und keinen Pinsel halten. Die Kinder können nicht mit einer Schere umgehen. Die Kinder wissen nicht, wie man einen Stift hält.“
So etwas höre ich dauernd, oft über Kinder, die im letzten Kita-Jahr oder sogar schon in der ersten Grundschulklasse sind. Auch hier ist das Traurige, dass es eigentlich keine Überraschung ist.
Es gibt zwei wichtige Gründe dafür: Der erste ist, dass die Kleinen heute viel wahrscheinlicher ein digitales Gerät in den Händen haben als einen Wachsmalstift oder eine Schere. Wer in ein Restaurant geht, in eine Arztpraxis oder an irgendeinen anderen Ort, wo Eltern und Kinder zusammen sind: Man sieht praktisch keine Kinder mehr, die malen, während die Familie wartet. Sie reden auch nicht miteinander, weil sie alle zu sehr mit ihren Smartphones und ihren Tablets beschäftigt sind. Wenn hier irgendwelche Muskeln zum Einsatz kommen, dann zum Wischen eines Bildschirms.
Kinder, die auf Bildschirmen herumwischen, anstatt zu malen und zu schneiden, entwickeln nicht die Feinmotorik, die sie brauchen würden, um einen Stift zu halten und zu schreiben, Kleidung auf- und zuzuknöpfen, Besteck richtig zu halten oder einen Tacker, eine Klebstoffflasche oder eine Zahnpastatube zu benutzen.
Der zweite Grund dafür, dass dieser Trend nicht überraschend ist, ist dass Kinder heutzutage so wenig Zeit damit verbringen, zu krabbeln, rennen, springen und klettern. Wer sich noch nicht mit der Entwicklung der Motorik beschäftigt hat, findet diesen Zusammenhang vielleicht fragwürdig, aber es ist eine Tatsache, dass sich die Körperkontrolle von oben nach unten und von der Körpermitte (Torso) nach außen (Extremitäten) hin entwickelt – und von den großen zu den kleinen Muskeln. Das bedeutet, dass die kleinen Muskeln in den Händen sich nicht vollständig entwickeln werden, solange die Rumpfmuskulatur und andere große Muskelgruppen noch unterentwickelt sind. So ist das von der Natur vorgesehen, es ist unabänderlich. Und deshalb haben viele Experten gesagt, dass der beste Weg, Kindern zu helfen Schreiben zu lernen, darin besteht, sie auf Bäume klettern oder an Hangelleitern hangeln zu lassen.
Dieses Entwicklungsmuster bedeutet aber nicht, dass Kinder keine Feinmotorik üben können, bis ihre großen Muskeln soweit sind. Im Gegenteil, kleine Kinder sollten viele Gelegenheiten haben, ihre feinmotorischen Fähigkeiten zu trainieren, und sie sollten dazu viele angemessenen Materialien und Gegenstände zur Verfügung haben. Der Ergotherapeutin Christy Isbell zufolge gehören „eine Vielzahl von offenen Materialien wie Papier, Zeichenutensilien, Kleber, Ton und kleine Bausteine“ dazu. Isbell glaubt auch, dass Kinder „mehr Zeit damit verbringen sollen, mit losen Teilen zu spielen als Schreiben zu üben“, denn wenn kleine Kinder zum Schreiben gedrängt werden bevor ihre Hände motorisch dazu bereit sind, kann das negative Auswirkungen haben.
Natürlich, sollten die Kinder auch viel Gelegenheit haben, zu krabbeln, zu laufen, zu springen und zu klettern, während sie all diese feinmotorischen Übungen machen!
Wenn die Kinder selbst entscheiden könnten, wie sie ihre Zeit verbringen wollen, würden sie spielen, und so sollte es auch sein. Und dieses Spiel würde sowohl große als auch kleine Muskeln einbeziehen und trainieren, weil es gleichzeitig ihr Gehirn, ihre Resilienz, ihre Problemlösungsfähigkeit und all die anderen wunderbaren Eigenschaften, die sie durch das Spiel lernen sollten, entwickeln würde. Stattdessen ignorieren Erwachsene die Gesetze der kindlichen Entwicklung – entweder, weil sie es nicht wirklich verstehen oder weil sie es zu eilig haben. Und leider sind es die Kinder, die den Schaden davontragen.