Gesprochene Sprache: die Grundlage von Literacy
| Juli 2019In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist die gesprochene Sprache – Unterhaltung, Poesie, Geschichtenerzählen und Gesang – lange vor der Schriftsprache entstanden. Bei Kindern sehen wir das gleiche Muster der Sprachentwicklung. Kinder lernen zuerst, gesprochene Sprache zu verstehen, selbst zu sprechen, zu singen, Spaß am Reimen zu haben und Geschichten zu hören oder vorgelesen zu bekommen, bevor sie selbst lesen oder schreiben lernen. Wir vergessen zu oft, dass die Entwicklung dieses Fundaments, der gesprochenen Sprache, ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der Literacy ist.
Professor Barry Sanders, bekannt durch sein Buch Der Verlust der Sprachkultur, beschreibt eloquent, welche Bedeutung die Entwicklung der gesprochenen Sprache hat. Zusammenfassend sagt er: „Der Erfolg, den eine Person bei der gesprochenen Sprache hat, bestimmt, ob er oder sie Lesen und Schreiben lernen werden.“
Wenn es so wichtig ist, dass ein Kind ein gut sprechen lernt, wie können Eltern und Erziehungskräfte es dabei unterstützen?
Zu den wichtigsten Gelegenheiten der Sprachentwicklung gehört das Freispiel der Kinder. Beim Spielen wenden Kinder all ihr Wissen an. Wie der Psychologe Lew Wygotski so schön sagte, „Kinder sind einen Kopf größer“ wenn sie spielen. Das trifft auch auf ihren Sprachgebrauch zu. Im Spiel fühlen sie sich frei, neue Wörter und Sprechweisen auszuprobieren. Die bekannte Pädagogin Sarah Smilansky, die sich auf die Erforschung des kindlichen Spiels spezialisiert hat, verglich Kinder im Jahr vor der Einschulung, die beim soziodramatischen Spiel sehr kompetent waren, mit solchen, die darin schwächer waren. Die kompetenteren Kinder konnten besser sprechen und ihre Spielgefährten besser verstehen.
Zum Glück sind Kinder von klein auf hoch motiviert, sprechen zu lernen. Es gibt verschiedene Theorien darüber, wie sie Sprache lernen, aber jeder, der mit Kindern arbeitet, sieht deutlich, dass die meisten Kinder stark auf Sprache eingestellt sind und sie aufsaugen wie ein Schwamm. Wenn das nicht der Fall ist, gibt es oft Grund zur Sorge. Das bedeutet nicht, dass alle Kinder mit einem Jahr anfangen, „Mama“ zu sagen, mit zwei Jahren Zwei-Wort-Sätze und mit drei Jahren komplexere Sätze bilden. Meine eigene Mutter erzählte mir oft, dass ich sehr wenig sagte, bis ich drei Jahre alt war. Als sie den Kinderarzt darauf ansprach, meinte er, er sei zuversichtlich, dass ich bald anfangen würde zu sprechen, und dann nie wieder aufhören würde. Laut meiner Mutter ist genau das passiert!
Säuglinge und Kleinkinder haben ein großes Interesse an Sprache. Die meisten Eltern verstehen das instinktiv und umgeben ihre Kinder mit warmer, liebevoller Sprache. Mit Babys oder Kleinkindern sprechen wir oft „Motherese“ oder „Baby Talk“, das eine höhere Tonlage, stärkere Satzmelodie und geringere Sprechgeschwindigkeit hat, als Sprache, die sich an ältere Kinder oder Erwachsene richtet. Sie muss nicht übertrieben und ultrasüß sein, wie es manchmal der Fall ist, aber musikalisch genug, damit Kinder die Wärme fühlen können. Baby Talk ist verwandt mit dem ganzen Bereich der Schlaflieder und Kinderreime, die Babys und Kleinkinder ebenfalls lieben.
Neuere Forschungen bestätigen die Bedeutung von Kinderliedern für Kleinkinder. Sie zeigen, dass sie zur Erkennung von Phonemen beitragen – d. h. von bedeutungsunterscheidenden Lauten und der Aufteilung der Sprache in Lauteinheiten oder Silben. Dies erkennen zu können ist ein wichtiger Bestandteil beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Schon bevor Kinder selbst sprechen können, machen ihnen Kinderreime Spaß. Ich erinnere mich, wie ich mit der neun Monate alten Tochter meiner Nachbarin „Das ist der Daumen“ gespielt habe. Es war ein heißer Sommertag, und sie lag in ihrem Kinderwagen. Sobald ich fertig war mit meinem Reim, hob sie ihre Hand mit der klaren Botschaft: Lass es uns nochmal spielen. Ich musste es mehrere Male machen, bevor sie zufrieden war. Ich habe mit vielen Kindern, die selbst noch keine klaren Worte sprechen konnten, aber von den Reimen, dem Rhythmus und den Gesten der Kinderreime fasziniert waren, ähnliche Erfahrungen gemacht.
Die oft zitierte Untersuchung von Risley und Hart ergab, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien im Alter von drei Jahren 30 Millionen Wörter weniger gehört hatten als Kinder aus wohlhabenden Familien. Dies ist ein Rückstand, der aufgeholt werden muss. Guter gesprochener Sprache ausgesetzt zu sein ist hier sehr hilfreich: Unterhaltungen, Reime, Lieder und Geschichten. Weitere Vorschläge, wie man diesen Rückstand überwinden kann, finden Sie in The Word Gap: The early years make the difference.
Als ich noch Erzieherin war, habe ich am Vormittags immer zu verschiedenen Zeiten einen Schwerpunkt auf gesprochene Sprache gelegt. Ich mochte es nicht, wenn Kinder einer Flut an Worten ausgesetzt wurden, aber wenn wir einen Imbiss oder eine Mahlzeit hatten, habe ich vielleicht etwas aus meinem Leben erzählt, und die Kinder haben von ihren Familien, Haustieren, Ausflügen und so weiter berichtet. Wir lernten die Kunst, miteinander zu sprechen, und dass dazu auch gehört, einander zuzuhören.
Bei Übergängen verwendeten wir Reime und Lieder, um die einzelnen Teile des Tages miteinander zu verbinden. Jeden Morgen beim Sitzkreis sagten wir bestimmte Reime, die wir manchmal variierten, sodass die Kinder im Laufe des Kindergartenjahrs eine Menge verschiedener Reime lernten. Das war eine wunderbare Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Kinder bei den Sitzkreisen in den verschiedenen Jahreszeiten zu gewinnen. Manchmal spielten wir Reime nach, wie zum Beispiel „Jack be nimble, Jack be quick, Jack jump over the candle stick.“ Die Kinder stellten sich hintereinander auf und sprangen, wenn sie an der Reihe waren, im richtigen Moment über einen Kerzenständer.
Manchmal hörte ich, wie die Kinder über einen Kinderreim diskutierten, so wie wir über Literatur diskutieren. An einem denkwürdigen Tag sprach der vierjährige Adam mit einem Freund über Humpty Dumpty. „Ich glaube nicht, dass Humpty Dumpty von der Mauer gefallen ist“, sagte Adam. „Du glaubst das nicht?“, erwiderte sein Freund in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er einen solchen Ausspruch für geradezu ketzerisch hielt. „Nein, ich glaube, er ist gesprungen!“ Adam war ohne Frage ein Kind, das sich voll ins Leben stürzte und sich von den vielen Schwierigkeiten, mit denen es konfrontiert war, nicht entmutigen ließ. Es war nicht leicht, mit ihm zu arbeiten, aber ich schätzte ihn für seine kämpferische Natur.
Märchen waren auch ein fester Bestandteil unseres Kindergartenalltags. Genauso wie man möchte, dass Jugendliche eine solide Kenntnis der großen Werke der Weltliteratur haben, wollte ich, dass meine kleinen Kinder gut mit den Märchen vertraut sind, die seit Jahrhunderten Teil der Kinderkultur sind. Gute Geschichten sind emotional bereichernd, regen die Fantasie an und helfen uns, die Welt zu deuten. Sie vermitteln kleinen Kindern, dass es im Leben zwar Schwierigkeiten gibt, aber dass wir den Mut, die Kraft und die Ausdauer aufbringen können, um sie zu bewältigen. Und auch wenn unsere Kraft allein nicht immer ausreicht, gibt es wunderbare Wesen, die uns zu Hilfe kommen – freundliche Zwerge und Tiere, weise alte Männer und Frauen und auch Kinder. Die Welt der Märchen ist voll von wunderbaren, aber auch von bösen Wesen. Sie bestärken das Kind in seinem Vertrauen, dass das Leben gut ist, auch wenn es manchmal schreckliche Dinge gibt.
Heutzutage leben Kinder in einer von Bildschirmcharakteren bevölkerten Welt. Ob sie dadurch in gleicher Weise gestärkt werden oder einfach nur von ihrem Unterhaltungswert gefesselt werden bleibt abzuwarten, aber ich bin skeptisch. Ich habe bislang noch kein Fernsehprogramm gesehen, das die Tiefe und Bedeutung von Märchen erreicht, die Kinder tief verinnerlichen, wenn sie einfach und gut erzählt werden.
Ich hatte in der Regel altersgemischte Gruppen von Drei- bis Sechsjährigen und es machte mir große Freude, die unterschiedlichen Reaktionen der jeweiligen Altersgruppen auf Märchen zu erleben. Die jüngeren Kinder saßen meistens mit offenem Mund da und rieben ihre kleinen Füße über den Teppich. Man merkte, wie sie diese Geschichten förmlich aufsaugten, ganz hinunter bis in ihre Zehenspitzen, genau wie ein Säugling beim Stillen mit seinen Zehen wackelt. Oh, diese Geschichten haben so gut geschmeckt!
Die älteren Kinder hörten mit geschlossenem Mund zu, und man konnte geradezu sehen, wie die Bilder aus den Geschichten durch ihren Kopf zogen. Die Tür zum Vorstellungsvermögen – Erzählungen zu Bildern zu machen – ist geöffnet und sie können die Geschichten vor ihrem inneren Auge sehen. Viele von ihnen erzählen die Geschichten zu Hause, nachdem sie sie ein paar Mal gehört haben.
Für die jüngeren Kinder eignen sich Märchen wie Goldlöckchen und die drei Bären, wo die Probleme einfach und klein sind. In solchen Geschichten gibt es oft eine sich wiederholende Handlung, und der Rhythmus der Erzählung hilft, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erreichen. Es gibt Geschichten, in denen Tiere anfangen, zusammenzuleben, wie in den Bremer Stadtmusikanten, und es gibt Geschichten, in denen die Fülle des Lebens Armut überwindet, wie beim Märchen vom süßen Brei. Ich erinnere mich, wie ich diese Geschichte einer Gruppe von Kindern erzählt habe, die obdachlos waren. Bei den Worten „Eines Tages gab es im Haus nichts mehr zu essen“ merkte ich, wie sie alle wie gebannt zuhörten. Sie kannten diese Situation sehr gut und schienen besonders zufrieden mit dem kleinen Topf, der sich immer mit süßem Brei füllte, „als ob er die ganze Welt ernähren wollte“.
Die älteren Kinder können hingegen schon Geschichten verarbeiten, in denen etwas Böses auftaucht, aber das Gute und Edle siegreich ist. Rotkäppchen ist ein gutes Beispiel dafür, und man muss es gar nicht dick auftragen. Der Wolf ist für kleine Kinder schon furchterregend genug, und wenn es dann heißt „und dann verschlang er die Großmutter mit Haut und Haaren“ kann es ganz ruhig und normal gesagt werden. In dieser Altersgruppe sind die Schöne und das Biest, der Froschkönig, Hänsel und Gretel und ähnliche Märchen aus aller Welt sehr beliebt.
In meinen altersgemischten Gruppen habe ich immer wieder neue Märchen eingeführt, einfache Märchen habe ich eine Woche lang wiederholt, und kompliziertere Geschichten zwei Wochen lang. Die älteren Kinder verstanden den Humor in den einfachen Märchen und waren nicht gelangweilt, und die jüngeren Kinder nahmen von den komplexeren Märchen das auf, was sie verstanden, und waren damit zufrieden, während die älteren Kinder ihrer Gruppe die ganze Geschichte in sich aufnahmen.
Es gibt noch komplexere Märchen mit sehr mächtigen bösen Wesen, so wie im norwegischen Märchen „Östlich von der Sonne und westlich vom Mond“. Diese Geschichten sollten erst in der Grundschule gelesen werden. Ich habe einige Jahre lang ehrenamtlich an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt gearbeitet, wo ich einmal wöchentlich den Erstklässlern Geschichten erzählt und mit ihnen gemalt habe. Eines Tages erzählte mir die Lehrerin, dass sie einen Elternabend hatte und die Eltern wissen wollten, was montags passiert. Ihre Kinder kamen montags von der Schule nach Hause, versammelten ihre Geschwister und Cousins um sich, setzten sich zu ihnen und sagten: „Jetzt erzähle ich euch eine leise Geschichte.“ Dann erzählten sie das Märchen, das sie an diesem Tag gehört hatten.
Ich war tief beeindruckt, denn die Märchensprache ist komplex und die Geschichten, die ich erzählte, waren nicht einfach. Dennoch wiederholten diese Erstklässler aus sehr einkommensschwachen Familien die Geschichten nach einmaligem Hören. Was für eine wunderbare Art und Weise, Sprachdefizite zu überwinden und Kenntnisse gesprochener Sprache zu entwickeln, und gleichzeitig bedeutungsvolle Geschichten kennenzulernen.