Forscherfragen
Warum Kinder Geheimnisse lieben
| Dezember 2015Eines Tages, ich war damals Leiterin eines Kindergartens, kehrte ich mit einer Gruppe Dreijähriger vom Spielplatz zurück. Als wir die Kita betraten, rief ein Kind: „Guck mal, da liegt ein Blatt auf dem Boden!“ Als wir uns bückten, um es in Augenschein zu nehmen, fragte ich: „Wie wohl das Blatt hereingekommen ist?“ Die Kinder machten nachdenkliche Gesichter, überlegten angestrengt und hatten dann eine Vielzahl von Antworten parat. Hier sind einige davon:
- „Vielleicht hat eine Maus es draußen aufgehoben und hereingebracht.“
- „Wahrscheinlich wehte der Wind, und da war ein winziges Loch in der Wand, und der Wind hat das Blatt durch das Loch hereingeweht.“
- „Ich glaube, es war schon die ganze Zeit hier drinnen.“
- „Vielleicht hatte es irgendjemand aufgehoben, und es war in seiner Tasche.“
- „Ich denke, jemand hat das Fenster aufgemacht, und ein Vogel hat das Blatt mit dem Fuß hereingeschubst.“
- „Ist ein Hund hereingekommen? Vielleicht kam einer herein und brachte es mit.
Als ich einige Tage später wieder mit dieser Kindergruppe vom Spielplatz hereinkam, bemerkte ich, dass an der Socke eines Kindes ein Blatt klebte. Ich zeigte es ihnen und fragte: „Denkt ihr, dass das Blatt neulich auf diese Weise in die Kita gelangt ist?“
Doch die Kinder riefen wie aus einem Munde: „Nein!“
Überrascht und erfreut fragte ich sie dann, was sie darüber dachten und warum sie meine Frage verneint hatten. Welche anderen Ideen hatten sie? Während dieses wunderbaren Gesprächs schrieb ich ihre Vorstellungen und Erklärungen auf. Ich schlug vor, dass wir darüber weiter nachdenken, die Sache erforschen und Experimente machen könnten, um das Rätsel, wie das Blatt nach drinnen gelangt war, zu lösen. Den Kindern gefiel der Vorschlag.
Vor allem aber lernte ich aus dieser Geschichte Folgendes: Die Lösung des Problems oder die Beantwortung der Frage war den Kindern lange nicht so wichtig, wie die Fragen zu stellen und dem Geheimnis nachzuforschen. Sie wollten es gar nicht auf Anhieb lösen. Sie waren viel zu sehr daran interessiert, das Abenteuer mit mir und den anderen Kindern fortzusetzen. Was zählte, waren der Prozess und das Geheimnis. In Bezug auf die frühe Kindheit sagen wir oft, dass der Prozess wichtiger ist als das Ergebnis, wobei wir für gewöhnlich die künstlerischen Aktivitäten der Kinder meinen. Es ist jedoch wichtig zu begreifen, dass der Prozess bei fast allem, was Kinder tun, das Allerwichtigste ist.
In Bezug auf die frühe Kindheit sagen wir oft, dass der Prozess wichtiger ist als das Ergebnis, wobei wir für gewöhnlich die künstlerischen Aktivitäten der Kinder meinen. Es ist jedoch wichtig zu begreifen, dass der Prozess bei fast allem, was Kinder tun, das Allerwichtigste ist. Wenn Kinder sich für einen Gedanken oder einen Gegenstand (eine Pfütze, ein Blatt oder eine Socke) interessieren oder davon fasziniert sind, müssen sie ihn unter die Lupe nehmen und erkunden können. Wenn wir sie stattdessen zu einer Bastelarbeit oder Aufgabe drängen, versagen wir ihnen diese intellektuelle Intensität. Der Wunsch des Kindes, den Dingen auf den Grund zu gehen, Gespräche zu führen und ernst genommen zu werden, bringt diese intellektuelle Intensität zum Ausdruck. Es ist dieser Prozess des Nachdenkens, Fragenstellens und Erstauntseins, auf den es ankommt, und Kinder zeigen uns das immer wieder. Statt also die Fragen und Ideen von Kindern zwar für clever zu halten, sie dann aber zum Basteltisch zu schieben, ist es sinnvoller, sich Zeit zu nehmen, um innezuhalten, ihnen zuzuhören und die Kinder wissen zu lassen, dass wir an dem, was sie zu sagen haben, interessiert sind.
Wenn wir den Gedanken kleiner Kindern lauschen, müssen wir manchmal merkwürdig verschlungene Reisen unternehmen, die scheinbar keinen Sinn oder Zusammenhang ergeben. Aber wenn wir Geduld haben und um weitere Erklärungen bitten, kann es zuweilen passieren, dass die Reise Sinn zu machen beginnt und wir einen Einblick in die kindliche Gedankenwelt erhalten. Kleine Kinder verstehen es, Realität, Fantasie und Vorstellungskraft zu verbinden, um den Dingen einen Sinn zu geben und eine – für sie – logische Erklärung zu finden. Sobald wir das anerkennen, stellen wir fest, dass das nicht einfach nur clever, sondern wirklich sehr beeindruckend ist, und erkennen im Kind viel eher den Wissenschaftler oder Künstler.
In jedem Kind einen forschenden Wissenschaftler zu sehen, scheint von noch größerer Bedeutung, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie Wissenschaftler arbeiten. So schreibt der amerikanische Biologe Stuart Firestein in seinem Buch Unwissenheit: Die Triebkraft der Wissenschaft:
„Wissenschaftler bleiben nicht im Morast der Tatsachen stecken, weil sie sich nicht übermäßig um die Tatsachen kümmern. Sie ignorieren die Tatsachen nicht oder lassen sie links liegen, aber sie begreifen sie auch nicht als Selbstzweck. Sie machen nicht bei den Tatsachen halt, sondern das Ende der Tatsachen ist ihr Anfangspunkt, sie fangen genau dort an, wo man keine Tatsachen mehr kennt.“
Dieser Prozess, sich „jenseits der Tatsachen“ (ein Blatt an einer Socke) zu begeben, ist somit nur der Anstoß, um Fragen zu stellen.
Wenn wir mit so begeisterungsfähigen und wissbegierigen Kindern arbeiten, sollten wir daran denken, dass Geheimnisse die Neugier steigern. Wir als Erzieher spielen eine Schlüsselrolle dabei, Orte zu schaffen, an denen Kinder und Erwachsene diesen Geheimnissen gemeinsam auf die Spur kommen können. Durch Beobachtung, „gute“ Fragen und eine offene, entdeckungsfördernde Umgebung können erstaunliche Dinge entdeckt und immer neue Fragen erforscht werden.
Und ist es nicht das, was Bildung sein sollte: Ein immerwährendes Geheimnis, das es durch die Betrachtung der Welt und ihrer Vielschichtigkeit zu enträtseln gilt, das Suchen (oder Untersuchen) und das Staunen über die Entdeckung? An bestimmten Punkten können Erwachsene den Kindern dabei helfen, ihre auf die Rätsel und Fragen bezogenen Theorien zu überprüfen. Aber wundern Sie sich nicht: Kleine Kinder wollen manchmal lieber am Geheimnis festhalten und die Spurensuche fortsetzen, statt es ein für alle Mal zu lösen.