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Die Natur als Montessori-Umgebung

Aufwachsen in einer von der Natur vorbereiteten Umgebung

Geoffrey Bishop | Oktober 2023

Als Kind, das im australischen Outback aufgewachsen war, erschienen mir Montessori und moderne Bildung und Erziehung zunächst wie von einem anderen Stern. Seitdem sind viele Jahre vergangen und ich habe viele Erfahrungen gemacht, durch die ich eine gut fundierte philosophische und pädagogische Position entwickelt habe. Jetzt kommt es mir so vor, als sei ich als Kind Montessori viel näher gewesen, als ich damals geahnt hatte. Wir als Montessori-Pädagogen glauben, dass es eine Reihe wichtiger Faktoren gibt, die für ein Kind notwendig sind, um erfolgreich erwachsen zu werden. Dazu gehören die Familie, ein stabiles Zuhause, zuverlässige erwachsene Bezugspersonen und ein gutes Bildungssystem, das die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Einzelnen fördert und eine Auswahl motivierender Lernangebote in einer vorbereiteten Umgebung bereitstellt.

Ich möchte einen weiteren Faktor erwähnen, der meiner Meinung nach im Leben eines Kindes ebenso wichtig ist, nämlich das unstrukturierte und uneingeschränkte Spiel im Freien und in der Natur. In seinem Buch Das letzte Kind im Wald (2013) spricht Richard Louv vom „Naturdefizit-Syndrom“, das er bei vielen Kindern heute beobachtet. Ich kann das bestätigen, und als Leiter einer Montessori-Schule mit 160 Hektar Freigelände und einer Stiftung für ökologische Bildung möchte ich dem entgegenwirken.

Ein Mädchen im Vorschulalter hockt auf einem Felsen in einem kleinen Bach und hält einen Stock

Ich möchte die Geschichte meiner eigenen Kindheit erzählen, wie sie eine Montessori-Erziehung in ihrer authentischsten Form widerspiegelt und wie die Elemente der natürlichen Welt zu meiner Erziehung beigetragen und mir im späteren Leben geholfen haben, Montessori wirklich zu verstehen. Meine Bildungsbiographie ist gelinde gesagt unkonventionell.

Das Bildungssystem

Schauplatz ist die katholische Sankt-Joseph-Schule, eine kleine Ansammlung von Steingebäuden am Fuße des Gillagala-Berges am Rande von Merriwa, einer ländlichen Stadt mit 500 Einwohnern im Nordwesten von New South Wales, Australien. In dieser kleinen Ein-Raum-Schule erhielt ich meine „formale Bildung“. Wir Schüler saßen in Reihen, vor uns die gefüllten Tintenfässer, und erhielten Belehrungen, an die ich keinerlei Erinnerung mehr habe. Aber es war nicht in diesem Klassenzimmer, wo meine eigentliche Bildung stattfand. Jeden Tag wachte ich mit meinen vier Brüdern und zwei Schwestern auf unserer Schäferei auf. Jeden Tag erledigten wir unsere Aufgaben mit den Schafen und liefen dann anderthalb Kilometer zur Bushaltestelle, um auf holprigen Landstraßen zur Schule zu fahren.

Auf diesem Weg fing meine Bildung an. Ich war als „Störenfried“ bekannt und berüchtigt, und musste daher vorne neben dem Fahrer auf einer alten Apfelkiste sitzen. Meine technische Ausbildung erhielt ich dadurch, dass ich den Motor und das Getriebe des Busses aus nächster Nähe kennenlernte. Da ich während der 1½-stündigen Fahrt nicht sprechen durfte und es mir zu langweilig war, einfach die Landschaft anzuschauen, fand ich andere Möglichkeiten, meine Energie auszuleben. Weil bei unserem Bus das Motorgehäuse nicht abgedeckt war, musste der Fahrer dauernd Kühlwasser nachfüllen, damit der Motor nicht überhitzen würde. Ich beobachtete den Motor, wie er ratterte und krachte, und den Fahrer, wie er Zwischengas gab, um den Gang einzulegen, bis ich alle Teile des Busses kannte. Einmal wollte ich verstehen, wie stark das Bremspedal betätigt werden muss, damit der Bus anhält, und ich trat mit voller Wucht auf das Bremspedal, während der Bus in Fahrt war. Wir kamen sehr schnell zum Stehen und ich lernte, dass ich viel Gewicht brauchte, um das Bremspedal durchzudrücken. Die Aktion blieb allerdings für mich nicht ganz folgenlos, und mein schmerzender Hintern lehrte mich, dass es keine gute Idee ist, einfach mal so auf die Bremse zu treten.

Sobald wir in der Schule ankamen, wurde der Pausenhof zu meinem Labor für Naturwissenschaften und Technik, allerdings wurden meine Forschungsarbeiten immer wieder durch lästige Stunden im Klassenzimmer unterbrochen. Auf meinem Lehrplan stand das Konstruieren von Ameisenfallen, der Bau von Festungen aus Stöcken und alten Schnüren und das Erklettern von Bäumen, um beim Fangenspiel nicht erwischt zu werden. Ich schraubte den Wasserhahn von der Trinkwasseranlage der Kinder ab, so dass das Wasser direkt auf den Boden floss. Jetzt konnte ich Dämme bauen und experimentieren, wie man den Wasserfluss ändern kann. Ich pflanzte alle möglichen Samen in den Blumenbeeten der Nonnen an, um herauszufinden, ob sie wachsen würden, und wenn sie wuchsen, jätete ich die Blumen aus, damit meine Weizen- und Haferpflänzchen mehr Licht bekamen. Ich läutete die Kirchenglocke, um zu sehen, wie hoch mich das Gewicht der Glocke vom Boden heben konnte, und ließ die Kreide auf den Boden fallen, um zu sehen, ob sie immer in drei Teile zerbrach.

All diese Erfahrungen sind mir in Erinnerung geblieben, auch wenn meine Lehrer und meine Eltern nicht immer glücklich darüber waren. Zusammengenommen waren sie mein Bildungssystem. Diese kleinen und eher unschuldigen Experimente mit der Realität würden zu viel größeren Experimenten in meinen späteren Jahren führen.

Unabhängigkeit: Die Eigenständigkeit des Individuums

Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat sich die Umwelt für mich natürlich angefühlt: Ich verbrachte Stunden am Bach, fing Frösche, beobachtete Schlangen und suchte nach Aalen. Ich verbrachte Tage damit, die Berge zu durchkämmen, Höhlen zu durchsuchen und neue Pflanzen zu entdecken, zwischen Farnen zu liegen und in den Himmel zu schauen, um in den Wolken Figuren zu sehen. Als ich fünf Jahre alt war, schenkte mir mein Vater ein Pferd. Ich hatte weder Zaumzeug noch Sattel, aber ich wusste schon, wie man reitet. Es war auch meine Aufgabe, mein Pferd zu füttern, zu tränken und zu striegeln und es so oft wie möglich zu reiten. Damals war mir nicht bewusst, wie wichtig diese Lektionen für mein ganzes Leben sein würden. Sie förderten meine Unabhängigkeit. Ich lernte meine Grenzen kennen und entwickelte meine Fähigkeit, mir das zu beschaffen, was ich brauchte, um ein Ziel zu erreichen.

Altersübergreifendes Lernen

Altersheterogene Lernumgebungen sind für mich so selbstverständlich wie die Schwerkraft. Wo ich aufwuchs, spielten und lernten Kinder verschiedenen Alters gemeinsam. Vieles von dem, was ich gelernt habe, kam von meinen älteren Brüdern. An langen, heißen Sommertagen verbrachten wir Stunden im Bach, schwammen und ließen Steine hüpfen. Von meinem Bruder lernte ich, wie man die Zündkerze am Rasenmäher auswechselt, von meinem Vater lernte ich, wie man ein Pferd beschlägt, und von einem Nachbarsjungen lernte ich, wie man in den Bergen nach Süßkartoffeln gräbt.

Ich lernte auch, vorsichtig zu sein, und zu hinterfragen, wenn ich aufgefordert wurde, etwas zu tun. Ein Beispiel: Meine drei älteren Brüder hatten Wochen damit verbracht, mit dem Motor eines alten Rasenmähers ein Gokart zu bauen. Die Karosserie bestand aus Holz und Metall, das auf viele einfallsreiche, aber nicht besonders stabile Weisen miteinander verbunden war. Dann kam der große Tag, an dem das Gokart zum ersten Mal fahren sollte.

Da ich der Jüngste von uns vier war, wurde beschlossen, dass ich der Testpilot sein sollte. Ich wurde mit dem alten Armeegürtel meines Vaters angeschnallt, und der Motor wurde angeworfen. Ich erhielt die strikte Anweisung, die Bremse erst dann zu lösen, wenn man mir das Zeichen gab. Sobald die Bremse nicht mehr angezogen war, würde das Gokart losfahren. Allerdings hatte mir niemand gesagt, wie ich lenken sollte. Als der Motor die volle Drehzahl erreicht hatte, gaben mir meine Brüder das Zeichen und ich raste direkt in den nächsten Baum. Lektion gelernt: Es gibt manche Ehren, vor denen man sich hüten muss.

Die vorbereitete Umgebung

Meine vorbereitete Umgebung war alles, was ich unter freiem Himmel vorfand. Sie war jeden Tag perfekt auf mich vorbereitet: vorbereitet, um mich vor Herausforderungen zu stellen, mich anzuspornen und mich in mein Tun zu vertiefen. Diese vorbereitete Umgebung war die Natur. Sie hatte keine Zäune, die mich drinnen und andere draußen halten konnten, sie hatte keine speziellen Pfade, die ich erkunden sollte und keine gepflegten Grasflächen, auf die ich mich legen sollte. Es gab keine Schaukeln, auf denen ich schaukeln sollte, keine Rutschen zum Herunterrutschen und keine kleinen Teiche zum Spielen für mich. Es war einfach die Natur in ihrer ursprünglichen Form. Da waren Baumstümpfe, auf die ich klettern und auf denen ich mich wie der König der ganzen Welt fühlen konnte, es gab Löwenzahn und Disteln, die ich für meine Mutter pflücken konnte. Es gab Bachufer mit Fröschen, die ich fangen konnte und überwucherte Hecken, in die ich kletterte und die in meiner Fantasie zu Festungen wurden. Die Natur muss nicht für Kinder entworfen werden, sie muss auch nicht von Ingenieuren gestaltet werden, um Spiellandschaften oder Grenzen zu schaffen; sie hat alles, was ein Kind sich wünschen könnte, und sie wird die Fantasie anregen.

Ich hatte ein glückliches Leben, und ich spreche oft über meine Kindheit und meine Zeit als Erwachsener. Ich bekomme oft zu hören: „Aber ich wohne doch in der Stadt, dort gibt es gefährliche Menschen. Wie kann ich die Sicherheit meines Kindes gewährleisten?“ Natürlich wollen alle Eltern, dass ihr Kind sicher ist und es ihr oder ihm gut geht. Meine Antwort auf diese Einwände ist: Wir können uns von unseren Ängsten und Vorurteilen leiten und beherrschen lassen oder wir können unseren eigenen Einschätzungen vertrauen und unseren Kindern unser Vertrauen in sie vermitteln. Wie soll ein Kind lernen, selbstständig zu sein, wenn wir ihm nie erlauben, etwas selbst zu tun? Wie soll ein Kind lernen, wem es vertrauen kann und vor wem es sich in Acht nehmen muss, wenn wir ihm nicht erlauben, Menschen kennenzulernen? Ein Sturz ist für einen Einjährigen alltäglich, für einen 35-Jährigen möglicherweise mit schweren Verletzungen verbunden und für einen 90-Jährigen vielleicht sogar tödlich.

Unsere Kinder müssen stürzen, sie müssen klettern und sie müssen sich schmutzig machen. Sie müssen experimentieren und ihre Grenzen auskundschaften. Wenn wir als Erwachsene sie zwingen zu warten, bis sie 18 sind, bevor sie stürzen oder sich schmutzig machen dürfen, werden die Folgen verheerend sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass Zäune und exklusive soziale Umfelder unseren Kindern die Möglichkeit nehmen, selbst die Welt kennenzulernen. Wir müssen ihnen die Freiheit zugestehen, die Welt zu entdecken, die eines Tages ihnen gehören wird. Meine Eltern haben mir ein großes Geschenk gemacht – die Natur als vorbereitete Umgebung als einen Ort, an dem ich frei spielen durfte. Dieses Geschenk sollten wir jedem Kind geben.

© 2013 American Montessori Society. Auszug aus Montessori Life, Herbst 2013, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.

Literaturhinweise

Louv, R. (2013). Das letzte Kind im Wald: Geben wir unseren Kindern die Natur zurück! Freiburg: Herder.

Wallace, I. (1946). Pookie. London: Harper Collins Publishers.

Themen
Montessori, Draußenspiel
Verwendung
Weiterbildung