Inspirationen aus der Reggio-Pädagogik
Beziehungen, Kreativität und Neugier in der Kita fördern
| August 2022Ich stehe in einem Raum einer Kita und sehe, wie ein Mädchen eine Lupe in die Hand nimmt. Sie beginnt, das Wachstum der Pflanzen zu untersuchen, die vor einigen Wochen bei einem Projekt der Gruppe gepflanzt wurden. Ich sehe eine kleine Gruppe von Kindern, die selbst Mosaike legen, nachdem sie antike Mosaike kennengelernt haben. Ich sehe einige andere Kinder, die vor einer Lampe tanzen und beobachten, wie sich ihre Schatten über die Wand bewegen. Die Arbeiten der Kinder sind im ganzen Raum ausgestellt, und ich habe das überwältigende Gefühl, dass der gesamte Raum zur Förderung der Kreativität und des Forscherdrangs der Kinder gestaltet ist.
Das ist ein von Reggio inspirierter Raum. Der Reggio-Pädagogik liegt eine Philosophie zugrunde, die das Kind wertschätzt und seine Individualität, Kreativität und Neugierde fördert.
Hintergrund und Geschichte
Der Reggio-Emilia-Ansatz ist nach der italienischen Stadt Reggio Emilia benannt, wo er als Reaktion auf die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf das Land entwickelt wurde. Eine überwiegend von Müttern geleitete Gruppe von Eltern aus der Region Reggio Emilia hatte den Wunsch, ihre Kinder auf eine neue, innovative Weise zu erziehen. Diese Eltern gründeten die ersten Kindertageseinrichtungen und baten Loris Malaguzzi, sie bei der Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen. Malaguzzi, ein ortsansässiger Lehrer und Psychologe, arbeitete mit den Eltern zusammen, um ihnen beim erfolgreichen Aufbau der Einrichtung zu helfen. Er arbeitete mit der Gemeinde zusammen, um weitere frühpädagogischen Einrichtungen zu gründen und die Reichweite des Reggio-Emilia-Ansatzes zu vergrößern.
Dank der Bemühungen von Malaguzzi hat sich der Reggio-Emilia-Ansatz weltweit verbreitet. Es ist ein Ansatz, von dem man sich inspirieren lassen kann, ohne einen formalen Akkreditierungs- oder Zertifizierungsprozess. Dadurch eignet sich der Ansatz für eine große Bandbreite von Einrichtungen. Bei der Philosophie von Reggio Emilia geht es darum, dass Bildung und Erziehung immer auf das Kind ausgerichtet sein müssen, und dass es zu den Aufgaben der Erwachsenen gehört, sich für die Kinder einzusetzen. Weil er die Kultur und die Stärken jedes einzelnen Kindes bejaht und fördern will, kann dieser Ansatz in frühkindlichen Bildungseinrichtungen auf der ganzen Welt eingesetzt werden. Die kindzentrierte, kompetenzorientierte Ausrichtung zeigt sich besonders an der Idee der 100 Sprachen der Kinder.
Die 100 Sprachen des Kindes
Die 100 Sprachen eines Kindes beziehen sich auf sein Potenzial. Der Reggio-Ansatz verwendet die Idee der 100 Sprachen, um die vielen verschiedenen Arten aufzuzeigen, wie jedes Kind die Welt erlebt, sich ausdrückt und seine Fähigkeiten entwickelt. Die Idee der 100 Sprachen würdigt die einzigartigen Fähigkeiten, Stärken und Erfahrungen jedes einzelnen Kindes. Sie drückt Wertschätzung aus gegenüber den Aktivitäten des Kindes und stellt das Kind in den Mittelpunkt. Das Kind wird zum Protagonisten bzw. zur Hauptfigur, die eine aktive Rolle im Lernprozess spielt. Der Reggio-Ansatz sieht drei Haupteinflüsse auf den Lernprozess des Kindes, die als „die drei Erzieher“ bezeichnet werden.
Die drei Erzieher
Die drei Erzieher im Leben eines Kindes sind nach dem Reggio-Emilia-Ansatz: die Eltern des Kindes, die pädagogische Fachkraft und die Umgebung. Das Kind steht im Mittelpunkt, es ist die Hauptfigur, und die drei Erzieher spielen die Nebenrollen. Die Familie, die pädagogische Fachkraft und das Umfeld sind miteinander verwoben und arbeiten bei der Entwicklung des Kindes zusammen. Das Kind braucht reichhaltige und bedeutungsvolle Interaktionen mit allen dreien.
Die Rolle der Familie
Die Familien sind die Experten für ihr Kind, daher sollten ihre Rolle und ihr Beitrag entsprechend gewürdigt werden. Sich gegenseitig als Partner zu sehen kann dazu beitragen, dass sich zwischen Elternhaus und Kita eine wichtige Vertrauensbeziehung aufbaut.
Dem Reggio-Ansatz zufolge können pädagogische Fachkräfte:
- Informationen von den Eltern über die Kultur, den Hintergrund und die Dynamik der Familie einholen
- Nach den Zielen und Erwartungen der Familie für das Kind und nach den Interessen des Kindes zu Hause fragen
- Eltern durch Fotos, Anekdoten und andere Formen der Dokumentation vermitteln, wofür ihr Kind sich in der Einrichtung interessiert, an welchen Projekten es mitgewirkt hat und woran es arbeitet.
Die Rolle der pädagogischen Fachkraft
Die Rolle der pädagogischen Fachkraft bei der Erziehung und Bildung eines Kindes besteht darin, Vermittler, Mitlernende, aktive Beobachterin und Mitarbeiterin zu sein.
Dem Reggio-Ansatz zufolge können pädagogische Fachkräfte:
- Sich auf die 100 Sprachen des Kindes einlassen (es darf ruhig ausprobiert, Fehler gemacht und dazugelernt werden). Der Reggio-Sichtweise folgend ist Lernen und Wachstum vielschichtig. Lassen Sie sich Zeit, um tiefer gehendes Lernen zu ermöglichen.
- Zu jedem Kind eine Vertrauensbeziehung aufbauen (sich aktiv einbringen und helfen, Verbindungen zu schaffen, um sowohl mit den Kindern als auch von ihnen lernen)
- Aktiv beobachten, um das Kind zu verstehen und von ihm zu lernen (anstatt es anzuleiten)
- Das eigene Verhalten und die eigene Denkweise reflektieren und mit anderen Fachkräften zusammenarbeiten
Die Rolle der Umgebung
Die Umgebung eines Kindes sollte fließende Übergänge haben und Spielen, Forschen, Lernen und Kreativität fördern.
Dem Reggio-Ansatz zufolge können pädagogische Fachkräfte:
- Räume schaffen, die Beziehungen, Gemeinschaft und Zugehörigkeit fördern, d. h. der Raum spiegelt die Beteiligung der Kinder wider und es gibt Orte, wo Kinder alleine, in Kleingruppen oder als Gesamtgruppe spielen können.
- Räume schaffen, die sich wie ein Zuhause anfühlen: mit Materialien, die einladend auf Tischen oder Regalen ausgelegt sind und Neugier wecken, mit natürlichem Licht, Lampen und Körben.
- Dem „grünen Gruppenraum“ (dem Außenbereich) genauso viel Aufmerksamkeit schenken wie den Innenräumen. Beide sollten gut und durchdacht gestaltet sein und entsprechende Wertschätzung erfahren.
Lernmethoden
Der Reggio-Ansatz betont vier Lernmethoden: ein offener Bildungsplan, die zentrale Rolle von Projekten, eine Vielfalt der Ausdrucksformen und Gruppenaktivitäten.
Der offene Bildungsplan
Ein offener Bildungsplan entsteht aus den Interessen des Kindes und sorgt dafür, dass das Kind tief in den Lernstoff involviert bleibt. Viele Kitas haben aber eine pädagogische Konzeption, die für jede Woche bestimmte Themen und Aktivitäten vorgibt. Denken Sie also daran, dass die Reggio-Pädagogik ein Leitfaden ist, von dem wir uns inspirieren lassen können. Sie kann uns helfen, kreative Ideen zu entwickeln, wie wir innerhalb einer vorgeschriebenen Konzeption spontane, kindgeleitete Elemente verwirklichen können.
Ideen für die Praxis:
- Hängen Sie ein Pinboard an die Wand mit Fotos und Texten, die den Interessen der Kinder nach gestaltet werden.
- Verwenden Sie einen Teil der Zeit beim Morgen- oder Abendkreis auf Themen, die von den Kindern vorgeschlagen werden. Erkundigen Sie sich bei den Kindern, was sie schon darüber wissen und was für Fragen sie haben – gehen Sie diesen Fragen nach.
- Lassen Sie jeden Monat die Kinder das Thema für einen Bildungsbereich selbst bestimmen.
Die zentrale Rolle von Projekten
Bei Projekten setzen sich Kinder intensiv mit Konzepten und Ideen auseinander, die auf ihren eigenen Interessen beruhen. In der Reggio-Pädagogik werden sie manchmal „Abenteuer“ genannt, und sie können sich über ein paar Wochen oder sogar über ein ganzes Jahr erstrecken.
Ideen für die Praxis:
- Vertiefung von Themen, die die Kinder interessieren (z. B. Dinosaurier oder Tiere der Savanne); einige Themen können in die nächste Phase einfließen.
- Verbinden Sie verwandte Themen miteinander, z. B. den Lebenszyklus eines Schmetterlings mit Bestäubung von Blüten, Migration von Tieren, Erdkunde, Insekten oder einem Gartenprojekt.
- Dokumentieren Sie den Lernprozess während des gesamten Projekts (Fotos, Aufzeichnungen von Schilderungen der Kinder, Projektarbeiten). Bringen Sie dies dann beim Morgenkreis und während des Freispiels ein, um darüber zu reflektieren und zu weiteren Fragen anzuregen.
Vielfalt von Ausdrucksformen
Die Vielfalt der Ausdrucksformen bezieht sich auf die vielen Möglichkeiten, wie den Kindern Inhalte präsentiert werden können: als gelesener Text, Bild, Theaterdarstellung, Bauwerk, Tanz, Musik, Puppenspiel, Schattenspiel usw. Kinder lernen auf unterschiedliche Art und Weise, durch ihre 100 Sprachen. Eine abwechslungsreiche Präsentation der Inhalte stellt sicher, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, Konzepte zu erfassen und zu verstehen.
Ideen für die Praxis:
- Präsentieren Sie Inhalte auf unterschiedliche Weise (das Wetter nachspielen, ein Buch mit den Kindern erstellen, das Kunstprojekt nach draußen nehmen).
- Verbinden Sie Lernbereiche miteinander, um Wissensbrücken zu bauen (z. B. indem Sie Möglichkeiten für Schreiben oder Kunst in den Forscher-Bereich integrieren).
Zusammenarbeit
Mit Gleichaltrigen, Erwachsenen und der Umgebung zusammenzuarbeiten ist ein wichtiges Element in jedem Reggio-inspirierten Lernprozess. Durch Zusammenarbeit wird die Fähigkeit zur Problemlösung unterstützt. Außerdem wird auf diese Weise sichergestellt, dass jedes Kind zur Sprache kommt.
Ideen für die Praxis:
- Fragen Sie die Kinder im Laufe des Tages oder beim Morgenkreis danach, was sie gerade interessiert.
- Ermutigen Sie die Kinder dazu, sich gegenseitig zu helfen und beim Spielen voneinander zu lernen.
Nachgewiesener Nutzen
Ein kindzentrierter Ansatz wie die Reggio-Pädagogik ist für die Entwicklung eines Kindes außerordentlich förderlich. Ein solcher Ansatz ermutigt zu gleichberechtigtem Lernen, weil jedes Kind wertgeschätzt wird. Es wird als Individuum gesehen, das ein Recht auf Wissen, Bildung und soziale Interaktionen hat, die es in seiner Entwicklung unterstützen. Er vermittelt die Erfahrung von Inklusion durch den Aufbau von Gemeinschaft und Respekt – für sich selbst ebenso wie für andere. Zusammenarbeit fördert die Sprachentwicklung, die sozialen Fähigkeiten, die kognitive Entwicklung und die exekutiven Funktionen. Der Reggio-Ansatz stärkt außerdem die Bildungspartnerschaft zwischen Einrichtung und Familie und wirkt auf eine Zusammenarbeit hin, welche für die Entwicklung des Kindes von großem Nutzen ist.
Lassen Sie sich inspirieren
Es ist schwer, sich nicht vom Ansatz von Reggio Emilia inspirieren zu lassen. Denken Sie aber daran, Veränderungen in kleinen Schritten vorzunehmen. Was kann einfach verändert werden, und wie kann das, was schon da ist, anders verwendet werden? Denken Sie darüber nach, welche Bereiche der pädagogischen Konzeption spontaner und offener gehandhabt werden könnten. Die pädagogische Praxis ändert sich durch Gewohnheit. Setzen Sie es sich zum Ziel, aktiv zu beobachten, das Spiel und die Interessen der Kinder zu dokumentieren und ihre Entwicklung auf Fotos festzuhalten. Beziehen Sie die Familien ein und schaffen Sie ein Bildungs- und Entwicklungsumfeld, das den Kindern in Ihrer Gruppe oder Einrichtung entspricht. Bringen Sie die Natur nach drinnen und den Innenraum nach draußen. Schon bald werden Sie einen Reggio-inspirierten Raum haben, auf den selbst Loris Malaguzzi stolz sein würde.
Literaturhinweise
Biermeier, M. A. (2015, November). Inspired by Reggio Emilia: Emergent curriculum in relationship-driven learning environments. https://www.naeyc.org/resources/pubs/yc/nov2015/emergent-curriculum
Flavin, B. (2020, Februar 24). What is Reggio Emilia? Your guide to this child driven approach. Rasmussen University. https://www.rasmussen.edu/degrees/education/blog/what-is-reggio-emilia/
Grand Rapids Child Discovery Center. (k. A.) What is the Reggio Emilia approach? https://childdiscoverycenter.org/non-traditional-classroom/what-is-the-reggio-emilia-approach/
Picture Perfect Playgrounds. (k. A.). Loris Malaguzzi. Play and Playground Encyclopedia. https://www.pgpedia.com/m/loris-malaguzzi
Reggio Emilia Approach. (k. A.). Reggio Emilia approach. https://www.reggiochildren.it/en/reggio-emilia-approach/
Stoudt, A. (k. A.). The Reggio Emilia approach. Scholastic. https://www.scholastic.com/teachers/articles/teaching-content/reggio-emilia-approach/
The Scotts College Sydney Australia. (2017, November 21). What is the Reggio Emilia philosophy? https://www.tsc.nsw.edu.au/what-is-the-reggio-emilia-philosophy/